Paul Goldschmidt (08.08.1914 – 10.08.2010)

wurde als 4. Kind eines jüdischen Kaffee-Großhändlers in Amsterdam geboren. Die Mutter war in Deutschland geboren und aufgewachsen. Auch sie war jüdischer Herkunft. Aber beide Eltern praktizierten nicht den jüdischen Glauben, und so erzogen sie auch ihre Kinder nicht nach jüdischer Tradition.

Das Kind Paul hatte in der Schule große Schwierigkeiten, Lesen und Schreiben zu lernen. Damals hatten Lehrer dafür kein Verständnis und sie verdarben dem Kind alle Freude an Schule. Zum Glück hatte der Vater Verständnis, tröstete das Kind: „Du bist nicht dumm, du hast einen gesunden Verstand!“ und erreichte so, dass Paul nicht den Mut verlor, sondern wissbegierig und selbstsicher blieb.

Mit 17 Jahren – nach der mittleren Reife - kam Paul in die Behandlung einer Logopädin in Den Haag, die sich auf Dyslexie spezialisiert hatte. Dadurch gewann er dann doch noch eine Beherrschung des Lesens und der Rechtschreibung. Er spielte in dieser Zeit auch intensiv Querflöte, und es gab die Überlegung, dass er Berufsmusiker werden könnte. Das Erleben der eigenen Behinderung begründete dann aber seinen Entschluss, Logopäde zu werden. 1936 legte er in Utrecht das Logopädie-Examen ab. In Wien machte er ein halbes Jahr ein Praktikum in einer berühmten Sprachheilklinik.

1940 besetzten die Deutschen die Niederlande, und es begann die Verfolgung auch der Niederländischen Juden. Aufgrund der jüdischen Abstammung wurden Paul Goldschmidt und seine Frau Renate Laqueur 1943 im sogenannten „Durchgangslager“ Westerbork interniert. Hier meldete sich Goldschmidt als Logopäde und wurde vom deutschen Kommandanten, der dort mit jüdischen Ärzten einen medizinischen Dienst unterhielt, auch für diese Arbeit eingeteilt.
Im März 1944 wurden Paul Goldschmidt und seine Frau ins Konzentrationslager nach Bergen-Belsen deportiert. Er hat später allen, die ihn gefragt haben, von den Erfahrungen dieser Zeit erzählt, nie beschönigend, aber auch nie klagend oder anklagend.
Dabei hat er Mitläufer bei der SS, die selbst Angst hatten, unterschieden von den psychopathischen Sadisten. „Ich wollte von der SS nicht lernen. Ich wollte nicht wie sie diskriminieren.“

Noch im April 1945 wurden die kranken und fast verhungerten Häftlinge aus Bergen-Belsen in den Osten transportiert. Sie wurden an der Elbe von russischer Armee befreit. Paul Goldschmidt hatte im „Verlorenen Zug“ nur noch auf dem Boden gelegen, weil er vor Hunger keine Kraft mehr hatte. Er hat nur überlebt, weil seine Frau, wenn der Zug stand – sie ist unter Lebensgefahr durch Minenfelder gelaufen - etwas irgendwie Essbares „organisiert“ hat.

Nach dem Krieg hat Paul Goldschmidt dann in Amsterdam selbstständig als Logopäde gearbeitet und eine große Privatpraxis aufgebaut. Sein besonderes Interesse galt neurologisch geschädigten Patienten und in besonderem Maße Kindern mit Bewegungsstörungen.
Die Ehe mit Renata Laqueur hatte die Belastungen der Kriegszeit nicht überstanden. Mit seiner späteren Ehefrau Heleen bekam er vier Kinder.

Paul Goldschmidt hatte von der Arbeit des Ehepaars Bobath gehört und hospitierte 1951 sechs Wochen lang in deren Londoner Klinik. Es war ihm sehr schnell klar, dass eine Integration der bobathschen Prinzipien in die logopädische Arbeit mit CP - Kindern hilfreich sein könnte. Und das setzte er dann auch in seiner Arbeit um. Schon damals arbeitete er u.a. mit sehr schwer mehrfach geschädigten Kindern und auch mit solchen, die aufgrund der motorischen Behinderungen nur sehr schlecht verständliche oder gar keine Lautsprache produzieren konnten. Interdisziplinäre Zusammenarbeit war ihm selbstverständlich.

Auf der Grundlage seines humanistischen Menschenbilds begegnete er sowohl den Patienten als auch ihren Eltern oder anderen Bezugspersonen. Schon damals war sein Blick in erster Linie auf Kompetenzen seiner Patienten und nicht auf Defizite gerichtet. Motivation, Interesse und Spaß sollten die Triebfedern sein, die Entwicklung oder Kompensation ermöglichen konnten.

Als 1969 an der damaligen Pädagogischen Hochschule in Dortmund eine Professur für Körper- und Sprachbehindertenpädagogik eingerichtet wurde, suchte der Lehrstuhlinhaber Prof. Wolfgart einen Experten für das Gebiet der Sprachtherapie bei Kindern mit Cerebralparese und fragte Paul Goldschmidt, ob er in Dortmund unterrichten wolle. Dem war klar, dass Arbeiten in Deutschland alte schmerzhafte Erinnerungen wecken könnte, und er vereinbarte, dass er in diesem Fall sofort seine Arbeit in Dortmund beenden dürfe. Aber auch jetzt trug seine Haltung der Toleranz; er wollte „nicht umgekehrt diskriminieren“. Und konnte bleiben.

Von 1970 an vermittelte er in Dortmund Studierenden ein differenziertes Fachwissen – die neurologischen Grundlagen waren komplex, und das wurde den Studierenden auch so vermittelt.
Möglichkeiten der Unterstützten Kommunikation kannte man noch nicht. So versuchte man in der Sprachtherapie in erster Linie, Atmung, Stimmgebung und Artikulationsvermögen positiv zu beeinflussen. Die Studierenden konnten erleben, wie Paul dabei mit Kindern mit Behinderung umzugehen wusste: Durch Beeinflussung der Motorik nach Bobath wurden die Körperfunktionen erleichtert. Den dann möglichen Lauten wurde Bedeutung gegeben. So entstanden „Gespräche“, die Bezug zur alltäglichen Realität hatten und die dabei auch noch Spaß machten. Er erfand zum Beispiel ein „Interview“ mit dem bekannten Fernsehjournalisten Nowotny, den man im Schwimmbad getroffen hätte. Im Rollenspiel bekamen beide Gesprächspartner immer wieder Wasser in den Mund und konnten deshalb natürlich nicht perfekt artikulieren. Das Kind wurde im Spiel nicht mit seinem Unvermögen konfrontiert, sondern es erlebte Freude an dem stimmlichen Austausch.
Immer wusste Paul Goldschmidt sich auf kognitiv-sprachliches Niveau und Lebensalter einzustellen. Fantasie und Humor ließen die Ideen für gezielte therapeutische Interventionen nicht ausgehen.

1970 erschien sein Buch „Logopädische Untersuchung und Behandlung bei frühkindlich Hirngeschädigten“, Berlin, 3. unveränd. Auflg. 1981.

Paul Goldschmidts Gutachten waren bekannt für ihre Detailliertheit. Zusammen mit der anschaulichen Falldarstellung, zunächst mit Tonband-, später mit Video-Beispielen, oder auch bei Hospitationen, wenn er in seiner Wohnung oder bei Hausbesuchen mit Kindern arbeitete, gaben sie den Studierenden einen Eindruck von der Komplexität seiner Herangehensweise, aber auch von der tief respektierenden mitmenschlichen Art seines Kontakts mit Patienten und ihren Bezugspersonen.

Er suchte damals bereits für die Kinder, die kaum oder gar nicht artikulieren konnten, nach kompensierenden Möglichkeiten. Er setzte z.B. die elektrische Schreibmaschine und Kopfschreiber ein und vermittelte den Kontakt zu Firmen, die die ersten UK-Geräte herstellten, z.B. zur Firma Possum in England.

Nachdem er 1983 die offizielle Berufstätigkeit beendet hatte, blieb sein Interesse für die Menschen, die Kommunikationsunterstützung brauchen, äußerst wach. Er war zusammen mit Ursula Braun, ihrem Mann und mir an der Gründung von ISAAC-Deutschland beteiligt, wobei er schon aktiv bei den Vorüberlegungen mitgewirkt hatte. Und er verfolgte mit großem Interesse die Entwicklungen, die sich in der Folgezeit vollzogen.

Besonders wichtig war ihm der direkte Austausch mit unterstützt kommunizierenden Menschen. Seine Zugewandtheit und Wärme, aber auch immer wieder seinen Humor haben viele von ihnen kennengelernt. Bei den Jahres-Treffen unterstützt kommunizierender Menschen und ihrer Bezugspersonen in Köln war er fast immer dabei und schwätzte und lachte mit ihnen bis weit in die Nacht.

In Anerkennung seines Lebenswerks für Menschen mit schweren kommunikativen Einschränkungen heißt ein Preis für unterstützt Kommunizierende seit 2008 „Paul-Goldschmidt-Preis“.

Essen, den 24.04.2023 Bärbel Weid-Goldschmidt

Link zur Broschüre über Paul Goldschmidt (PDF)

 

Paul-Goldschmidt-Preis 2023

Informationen von Norbert Kunze (Kongressteam) zum Paul-Goldschmidt-Preis, der während des Kongresses in Leipzig 23.-25.11.2023 an einen / eine UK-Nutzer:In verliehen wird:

Die Gesellschaft für Unterstützte Kommunikation hat mich gefragt, ob ich für den UK Kongress im November 2023 in Leipzig wieder den Paul Goldschmidtpreis mit organisieren kann.
Informationen über das Wirken von Paul Goldschmidt und über seine Bedeutung für die GesUK sind im Flyer nachzulesen.
Der Paul-Goldschmidt-Preis ist eine Auszeichnung für eine unterstützt kommunizierende Person und steht für:

- besonderes Engagement
- kritisches Hinterfragen
- aktiven Einsatz
- klare Beiträge
- inklusive Arbeit
- mutiges Umgehen mit Schwierigkeiten u.v.m.

Hierfür sammele ich Vorschläge. Die Begründungen sollten ca. 1 DIN A 4 Seite einnehmen. Wie ein Vorschlag für den Paul-Goldschmidt-Preis aussehen kann sieht man unten in dem Beispiel. Abstimmen über den Paul-Goldschmidt-Preis, werden wir unterstützt kommunizierenden Personen mit unseren Familien aus der Gesellschaft für unterstützte Kommunikation. Alle Vorschläge werden für die Abstimmung namenlos gemacht. Am Festabend auf dem UK Kongress wird das Geheimnis des Paul Goldschmidtpreises 2023 gelüftet. Vorschläge bitte bis zum 30.06.2023 an paul-goldschmidt-preis@gesellschaft-uk.org

Anhang:

Formulierungshilfe zum Vorschlag eines Preisträgers:

Der Preis geht an einen UKler, der mit und für andere Ukler stets aktiv ist

Person F hat einen scharfen Verstand und erkennt sofort, wo das Problem liegt. Er hört stets aufmerksam zu. Er hat einen ganz tiefsinnigen Humor und man kann prima mit ihm lachen. Er steht gar nicht gerne im Rampenlicht. Er überlässt gerne anderen die Bühne, denn er ist bescheiden. Dabei hat er so viel zu sagen!

Person F spricht nicht nur über Unterstützte Kommunikation, sondern er zeigt seinen Zuhörer*innen, worauf es bei Inklusion ankommt. So berichtet er z.B. auf einer Tagung darüber, wie UKler und Mundsprecher zusammenarbeiten können. Er hat dabei auch Probleme angesprochen.

Über mehrere Jahre hat er immer wieder vor Studierenden über das Leben mit Behinderung gesprochen und geduldig alle Fragen beantwortet.  So ist er ein Vorbild, weil er mit unterschiedlichen Themen zeigt, dass UKler nicht nur Experten für UK, sondern Experten für ganz viele Themen sein können.

Person F engagiert sich seit vielen Jahren als UK-Referent und in Gremien des Vereins für die Belange von UKlern. Er gibt dabei auch den UKler*innen eine Stimme, die sich nicht öffentlich äußern können oder wollen. Deswegen ist es ihm immer wichtig, dass die Argumente von unterschiedlichen Leuten gehört werden. Läuft eine Diskussion einmal in eine falsche Richtung, kann man sicher sein, dass er anschließend in einer ausführlichen E-Mail auf die fehlenden Punkte hinweist. Gerade für die Mundsprecher, die in der Hitze der Diskussion gerne mal die Sichtweisen von UKlern vergessen, rückt er durch seine klaren Beiträge gerne zurecht. So arbeitet er stetig daran, dass UKler*innen im Verein mehr Gehör und Gewicht bekommen. Dieses Engagement zeigt er auch in seiner Werkstatt für Menschen mit Behinderung, in der sich für Kolleg*innen einsetzt, die aufgrund von Lernschwierigkeiten sich nicht gut selbst vertreten können. Seine eigene Arbeitssituation stellt er dabei immer hinten an.

Person F steht für die Dinge ein, die ihm wichtig sind. Dann kann er auch mal „Tacheles“ reden und scheut sich nicht, seinen Standpunkt zu vertreten, auch wenn das für ihn eine Herausforderung ist, weil er eigentlich Konflikte gar nicht mag. Auch hier ist er Vorbild, weil er sich traut, über seinen eigenen Schatten zu springen, wenn es darauf ankommt.

Das Engagement von Person F besticht dadurch, dass er still und stetig und ohne jemals im Rampenlicht zu stehen, seine Kraft für diesen Verein und für die Interessen von UKler*innen gibt. Durch seine geduldige, beharrliche und kritische Arbeit ist er zu einem „Korrektiv“ für allzu schnelle, allzu professionelle, allzu mundsprecher-lastige Entscheidungen geworden und trägt ganz wesentlich dazu bei, dass wir uns zu einem inklusiven Verein weiter entwickeln.

Preisträger Paul-Goldschmidt-Preis

1999 Uasima Zainabi
2001 Marion Tapken
2003 Laura Friedrich
2005 Kathrin Lemler
2007 Arne Mailwald
2009 Angela Jansen
2011 Gabi Rennert
2013 David Burger
2015 Klaus Ill, Martin Almon (Sonderpreis)
2017 Lena Hartung
2019 Norbert Kunze
2021 Natascha Toman und Daniel Rickenbacher
2023 Nele Diercks